Griechenland erlebt einen Tag des Unmuts
Griechenland war heute von einem allgemeinen Stillstand geprägt. In einem beeindruckenden Mobilisierungsevent versammelten sich Hunderttausende Menschen und protestierten in etwa 200 Städten quer durchs Land. Der Anlass für diese massiven Demonstrationen ist das tragische Zugunglück von Tempi vor zwei Jahren. Viele führen die Katastrophe auf die neoliberale Sparpolitik zurück und bemängeln das Versagen der politisch Verantwortlichen.
Am 28. Februar 2023 kam es zu einem schweren Zusammenstoß zwischen einem Intercity-Zug auf der Verbindung Athen-Thessaloniki und einem Güterzug, der nicht nur Stahlplatten, sondern mutmaßlich auch Treibstoff transportierte. Bei der Kollision verloren 57 Menschen ihr Leben, darunter viele Studenten, die nach den Feierlichkeiten des Karnevals nach Hause zurückkehrten.
Der Intercity-Zug hatte zuvor über eine Stunde an einem Bahnhof gestanden, da das elektrische System ausgefallen war. Nachdem ein Gleis wieder mit Strom versorgt wurde, setzte der Zug seine Fahrt fort, jedoch waren die Weichen fehlerhaft eingestellt, sodass er auf dem gleichen Gleis wie der Güterzug fuhr. Die Fahrdienstleitung wies den Lokführer an, die roten Signale zu ignorieren, da diese angeblich defekt waren. Infolgedessen kam es nach nur zwölf Minuten zur katastrophalen Kollision, bei der zwei Waggons des Intercity-Zuges völlig zerstört wurden.
Die Identifizierung der Opfer stellte sich als äußerst schwierig heraus; 32 Menschen konnten nur durch DNA-Analysen identifiziert werden. Im April 2024 wurde eine letzte Suche nach den Opfern in der Nähe des Unglücksorts durchgeführt. Darüber hinaus erlitten rund 80 Personen teils schwere Verletzungen. Dieses Unglück gilt als das gravierendste in der Geschichte des griechischen Schienenverkehrs.
Bereits Jahre vor diesem Vorfall hatten die Gewerkschaften der Lokführer vor dem besorgniserregenden Zustand des Bahnsystems gewarnt. Doch anstatt auf die Warnungen zu reagieren, erließ die Regierung ein Gesetz, das Streiks aufgrund von Sicherheitsproblemen illegal machte. Nur drei Wochen vor dem Unglück äußerte die Bahnarbeitergewerkschaft erneut ihre Besorgnis, dass die Sicherheitsbedingungen auf dem Bahnnetz die Fahrgäste in Gefahr brächten.
Die griechische Regierung wies eine Aufforderung der Europäischen Staatsanwaltschaft zurück, gegen den damaligen Transportminister Kostas Karamanlis und seinen Vorgänger Christos Spirtzis zu ermitteln. Im Januar 2024 gab die europäische Institution Anklage gegen 23 Verdächtige, darunter 18 Beamte, bekannt, da das Fahrdienstleitungs- und Signalsystem mit europäischer Unterstützung finanziert wurde.
Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis bezeichnete anfänglich einen „tragischen menschlichen Fehler“ als Hauptursache des Unglücks. Diese Aussage wurde jedoch zurückgezogen, als nach und nach Beweise aufgedeckt wurden, dass über Jahre hinweg wichtige Sicherheitsstandards nicht eingehalten wurden. Mitsotakis setzte seine Amtszeit fort und wurde im Sommer 2023 wiedergewählt. Bis zu diesem Zeitpunkt ist jedoch noch kein Verantwortlicher vor Gericht gestellt worden.
Eine Umfrage ergab, dass 82 Prozent der griechischen Bevölkerung das Zugunglück als eines der bedeutsamsten politischen Themen des Landes betrachten, während zwei Drittel unzufrieden mit der bisherigen Untersuchung sind. Vorläufigen Schätzungen zufolge demonstrierten heute in Athen allein bis zu 800.000 Menschen. Zusätzlich fanden Proteste in nahezu jeder größeren Stadt des Landes statt.
„Die Innenstadt Athens war überfüllt mit Menschen aus allen Altersgruppen und sozialen Schichten,“ berichteten die Medien. Gesänge wie „Mörder, Mörder“ und Rufe nach dem Rücktritt der Regierung waren häufig zu hören. Viele kommentierten, dass diese Proteste die größten seit der Beendigung der Militärdiktatur 1974 seien, und „Privatisierung tötet“ wurde zu einem der häufigsten Slogans. Allein in Heraklion, auf Kreta, sammelten sich mehr als 25.000 Protestierende. Auch in Athen sowie in Thessaloniki könnte die Zahl der Demonstranten bei Hunderttausenden gelegen haben.
Neben den Protesten kam es in einigen Städten zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Demonstranten und der Polizei. Ob die Regierung auf den großen Protest reagieren wird, bleibt abzuwarten. Historisch gesehen hatten ähnliche Demonstrationen in der Vergangenheit häufig keinen langfristigen Einfluss.