Die Verteidigung der eigenen Vorstellungskraft



Die Verteidigung der eigenen Vorstellungskraft

Die Frage, ob man zuerst ein Buch lesen oder sich dessen Verfilmung anschauen sollte, hat mich immer schon beschäftigt. Vor allem die Vorstellung, dass Filme meine eigene Fantasie beim Lesen beeinflussen könnten, lässt mich nachdenklich werden.

Ich erinnere mich an eine Diskussion im Deutschunterricht, die wohl irgendwann in der sechsten oder siebten Klasse stattfand. Die Lehrerin stellte die Frage, was unserer Meinung nach besser sei: den Film zuerst zu sehen oder zuerst das Buch zu lesen. Es ist mir entfallen, welches Buch wir bearbeiteten, doch ich hatte sofort viele Titel im Kopf – darunter „Robinson Crusoe“, „Meuterei auf der Bounty“ und die Abenteuer von Karl May, die mich damals interessierten. Allerdings war es nie meine bevorzugte Wahl, Karl May zu lesen oder die Filme zu schauen, viel eher die Werke von James Fenimore Cooper oder Jules Verne.

In den frühen 1970er Jahren in der DDR war es nicht so einfach, Filme zu sehen. Die Verfügbarkeit war eingeschränkt, und ich fand oft nur Schwarz-Weiß-Fernsehübertragungen oder Kinovorführungen, die nicht immer meinen Erwartungen entsprachen. Die Präferenz, die ich damals für das Lesen der Bücher entwickelte, war nicht bewusst, sondern einfach der Umstand der Zeit.

Die meisten meiner Mitschüler tendierten dazu, zunächst die Filme anzusehen, um deren Bilder dann beim Lesen des Buches verwenden zu können. Sie äußerten Bedenken, dass es störend wäre, wenn die Vorstellung, die sie aus dem Buch gewonnen hatten, nicht mit den Filmbildern übereinstimmte. Ich hingegen war überzeugt, dass ein Film nur eine persönliche Interpretation des Buches darstellt und dass ich durch dessen Bilder in meinen eigenen Gedankengängen beeinflusst werden könnte.

Gern äußerte ich meine Meinung, wenn auch etwas unreflektiert, und hielt es für eine Art Faulheit, die Filmversionen zuerst zu konsumieren, da meiner Ansicht nach eigenes Denken und eigene Vorstellungen gefordert sind. Natürlich habe ich im Laufe der Zeit gelernt, dass Filme manchmal beeindruckender und bereichernd sein können als die zugrunde liegenden Bücher – „Die Blechtrommel“ ist hierfür ein prominentes Beispiel.

Diese Skepsis gegenüber Bilddarstellungen ist mir geblieben, denn schließlich vermitteln sie immer eine eigene Geschichte. Die Fragestellungen, die sich mir stellen, sind nach wie vor von Bedeutung: Welche Erzählung vermittelt das Bild im Vergleich zum Text? Was löst das eine bei mir aus und wie verhält es sich mit dem anderen? Die Art und Weise, wie Bilder in verschiedenen Kulturen und Religionen interpretiert werden, bestätigen zudem die Komplexität dieser Thematik. In einigen Religionen, wie dem Islam, sind Bilder sogar ganz untersagt, was das Verhältnis zwischen Bild und Text weiter beleuchtet.

Letztendlich ging es mir, als ich auf die Frage unserer Lehrerin antwortete, um die Verteidigung meiner eigenen kreativen Vorstellungen. Ich wollte mich nicht den Bildern der anderen unterwerfen, nur um Konflikte zu vermeiden, wie es viele meiner Klassenkameraden taten.

Quentin Quencher, Jahrgang 1960 und ursprünglich aus Glauchau in Sachsen, wuchs in der ehemaligen DDR auf, die er 1983 verließ. Weder die dortige Heimat noch das wiedervereinigte Deutschland haben für ihn je ein tatsächliches Zuhause dargestellt. Er ist ein Suchender zwischen den Kulturen und lebt heute mit seiner Familie in Baden-Württemberg.

Für weiterführende Überlegungen zu diesem Thema empfiehlt er: Fukushima und die bebilderte Desinformation, welcher Bilder ohne den nötigen Kontext thematisiert. Dieser Beitrag ist auch auf Quentins Blog Glitzerwasser zu finden.

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